Kulturvergleichendes Langzeit-Forschungsprogramm
und Humanethologisches Filmarchiv
gegründet von Prof. Dr. I. Eibl-Eibesfeldt
Text veröffentlicht im Januar 2002
Abb. 1: I. Eibl-Eibesfeldt bei der Feldarbeit in
Neuguinea: "Die Eipo Mutter und ihr Kind
waren an meinem Verhalten ebenso interessiert,
wie ich an ihrem." Foto: Dieter Heunemann
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entwickelte Prof. Dr. Irenäus
Eibl-Eibesfeldt ein kulturenvergleichendes Programm, das in Film und Ton ungestellte
soziale Interaktionen des Alltags, Rituale und andere Aktivitäten dokumentiert. Ein
zentrales Anliegen dieser Arbeit bildet die Erforschung der Universalien im menschlichen
Verhalten. In Longitudinalstudien wurden dazu traditionelle Kulturen verschiedener
geographischer Regionen und unterschiedlicher Subsistenzstrategien erfaßt:
drei Kulturen der Kalahari-Buschleute als Modell
altsteinzeitlicher Jäger und Sammler (seit 1970; die !Ko, G/wi und
!Kung)
die Yanomami des Oberen Orinoko (seit1969) als Wildbeuter und
beginnende Gartenbauer
die Eipo (seit 1975) des Berglandes von West-Neuguinea (Irian
Jaya) als neusteinzeitliche Pflanzer
die Himba (seit 1971) als traditionelle Viehzüchter
Namibias
die Bewohner der Trobriand-Inseln (seit 1981) und Balis (seit
1965).
Darüber hinaus wurden Stichprobenerhebungen in Europa, in
Zentralaustralien (Walbiri, Pintubi) und Arnhemland (Gidjingali), den Philippinen (Tboli,
Tasaday, Agta) und anderen geographischen Regionen durchgeführt.
Die Methode wurde in Pilotstudienin den sechziger
Jahren erarbeitet. 1969 begann die systematische Dokumentation. Dabei wurden über Jahre und
in einigen Fällen über mehr als drei Jahrzehnte dieselben Lokalgruppen besucht.
Insgesamt wurden 16mm-Filmeund Videofilme (Mini DV, Hi 8 und S-VHS) mit einer Gesamtlänge
von ca. 350.000 Meter, größtenteils mit Ton aufgenommen. Das
Material lagert in der ehemaligen Forschungstelle für Humanethologie in der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), mit der strikten Auflage, das Original
ungeschnitten zu erhalten. Es soll so späteren Forschergenerationen im Original
für weitere Untersuchungen zur Verfügung stehen. Es handelt sich bei dem
Filmarchiv weltweit um die umfangreichste Dokumentation dieser Art. Es gibt zwar viele
völkerkundliche Filme, die jedoch meist auf vorgeführten Tätigkeiten
basieren. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden - typischerweise sind diese Filme
jedoch durch die Schnittechnik didaktisch aufbereitet und damit manipuliert. Darüber
hinaus wurde die Dokumentation ungestellten Alltagsverhaltens in ethnologischen Filmen bisher
vernachlässigt.
Das Humanethologische Filmarchiv besteht hingegen
größten-teils aus Aufnahmen ungestörten und ungestellten
Sozial-verhaltens. Dazu wurde häufig die von Prof. Dr. Hans Hass entwickelte Spiegeltechnik
eingesetzt (Abb. 1 und 2). Bei den älteren Filmen handelt es sich größtenteils um
unwiederbring-liche Aufnahmen, da die genannten Ethnien mittlerweile einem raschen
Kulturwandel unterlagen. Zeitlose und fächerüber-greifende Bedeutung hat
das Archiv aber vor allem mit der so gegebenen Möglichkeit, die Filmaufnahmen verschiedenen
Formen der Verhaltensanalyse zugrundezulegen, wie das verschiedentlich schon geschah, und zwar
sowohl von Mitarbeitern unseres Teams als auch durch Kollegen anderer Institutionen (Publikationen des Filmarchivs).
Abb. 2: Die von Prof. Dr. Hans Hass
entwickelte Spiegelkamera. Foto: R. Krell.
In Zusammenarbeit mit dem IWF Wissen und Medien in Göttingen und neuerdings auch mit dem
österreichischen Bundesinstitut für den Wissenschaftlichen Film in Wien (ÖWF)wurden
bis Ende 1998 aus unserem Filmmaterial 234 humanethologische und ethnologische Filme
veröffentlicht (veröffentlichte Filme).
Die meisten dieser Filme kamen im Rahmen der Encyclopaedia Cinematographica (EC) heraus, die
unter Befolgung strenger Richtlinien sowohl als Beleg für bestimmte vom Forscher
vorgetragene Thesen dienten, als auch darüber hinaus das Material für die
weitere wissenschaftliche Auswertung verfügbar machen. Die Filme dokumentieren
jeweils einen bestimmten Vorgang so ausführlich, daß sie als
Ausgangsmaterial für Forschung und Lehre dienen können. In Publikationen werden die
verbalen Interaktionen und Gesänge transkribiert sowie alle weiteren Angaben zu den
Filmen veröffentlicht.
Die Aufbereitung unseres umfangreichen Film- und Tonmaterials
ist keineswegs abgeschlossen. Bis November 1997 wurden in Göttingen 21 weitere
Enzyklopädie-Filme vorgestellt und abgenommen. Zu rund der Hälfte der bereits
veröffentlichten Filme fehlen noch die Begleitpublikationen. Auch bedarf es der
archivarischen Aufbereitung. Für viele Arbeiten ist es wichtig, daß man auch auf das
ungeschnittene Archivmaterial zurückgreifen kann. Das Original und eine Originalkopie bleiben
dazu unangetastet als "Quellenarchiv". EC-Einheiten werden von Originalduplikaten hergestellt.
Da die Filmaufnahmen, sowie die Auswertung und die Archivierung des Quellenmaterials vor mehr als
zwei Jahrzehnten begonnen wurde, ist das Archiv bisher ohne Einsatz von Computern geführt
worden. Für die effektive wissenschaftliche Nutzung haben wir 1994 begonnen, das gesamte
umfangreiche Humanethologische Archiv EDV-gestützt zu erschließen und zu
indizieren. Für die künftige Nutzung dieses Archivs ist es besonders wichtig,
alle Informationen in ein Datenbanksystem zu integrieren und damit komplexe Recherchen zu
ermöglichen. Erst bei einer kompletten Erschließung und Indizierung des Archivs
ist eine volle Nutzung auch durch fremde Wissenschaftler bzw. Institutionen gewährleistet.
Mit der Emeritierung von Professor Eibl-Eibesfeldt im Juni
1996 wurde die Forschungsstelle Humanethologie der MPG, die bis dahin die Dokumentation,
Auswertung und Veröffentlichung der Filme in Kooperation mit dem IWF finanziert hatte,
geschlossen. Professor Eibl-Eibesfeldt wurde ein Emeritus-Arbeitsplatz zur Verfügung
gestellt, um die weitere wissenschaftliche Auswertung und die Aufbereitung des Filmarchivs
zu ermöglichen. Für die EDV-gestützte Erschließung und
Indizierung des Filmarchivs stellte die
Volkswagenstiftung großzügig Mittel zur Verfügung.
Für die Zukunft hatte Eibl-Eibesfeldt nach seiner
Emeritierung die Übernahme des
Humanethologischen Filmarchivs in ein "Haus des Menschen" vorgesehen, das als museale
Bildungsstätte und Forschungseinrichtung den Menschen in den Mittelpunkt stellt und die
Möglichkeit eröffnet, den umfangreichen Datenbestand des Filmarchivs zugänglich und
für wissenschaftliche Forschung und öffentliche Bildung nutzbar zu machen.
Vor dem Hintergrund der Vielfalt der Kulturen, der Andersartigkeit und auch
Gegensätzlichkeit menschlicher Lebensweisen, sollten hier Erkenntnisse der Humanethologie, wie
die weltweit verbindenden Gemeinsamkeiten in Entwicklung und Verhalten des Menschen einer
breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht und damit ein Beitrag zur politischen und sozialen
Bildung geleistet werden, um durch Kenntnis und Verstehen des alle Menschen Verbindenden
Feindseligkeiten abzubauen und Toleranz gegenüber anderen Kulturen zu fördern.
Parallel zur musealen Funktion von Ausstellung und Archivierung sollte die weitere
wissenschaftliche Auswertung und Veröffentlichung von Filmen
und die Fortführung der Langzeit-Dokumentation menschlichen Verhaltens
erfolgen. Angestrebt werden sollte auch eine enge Anbindung an ein Museum für Völkerkunde
und die Vernetzung mit anderen Institutionen verwandter Ausrichtung.
Zur Zeit ist der Zugriff auf das Archiv nur mit Hilfe
eingearbeiteter Mitarbeiter möglich.
Text auf der Homepage des
ehemaligen Humanethologischen Filmarchivs in der Max-Planck-Gesellschaft, Januar 2002
Anfang 2014 beschlossen Irenäus Eibl-Eibesfeldt und die Max-Planck-Gesellschaft gemeinsam,
das Humanethologische Filmarchiv der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung zu übertragen.
Mit der nun erfolgten Übernahme durch die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung
sind ideale Voraussetzungen für die Zukunft der wissenschaftlichen Arbeiten des Humanethologischen
Filmarchivs gegeben.